Einleitung: Ein neuer Blick auf Unterstützung und Autonomie
Die Reform des Betreuungsrechts zum 1. Januar 2023 gehört zu den bedeutendsten sozialrechtlichen Modernisierungsschritten der letzten drei Jahrzehnte. Sie löst das bis dahin dominierende Leitbild der Gefahrenabwehr ab und ersetzt es durch ein System, das den Willen der betroffenen Person konsequent an die Spitze stellt.
Mehr als 1,3 Millionen Menschen stehen in Deutschland unter rechtlicher Betreuung – Tendenz steigend. Der demografische Wandel, komplexere medizinische Entscheidungsstrukturen und ein gestiegenes Bewusstsein für Selbstbestimmung machten eine umfassende Reform unausweichlich. Die Reform verankert die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention systematisch im deutschen Recht und stellt Fragen an die Praxis, die weit über juristische Details hinausreichen: Wie viel Entscheidungshoheit bleibt, wenn Unterstützung notwendig wird? Und wie schützt ein System, ohne zu entmündigen?
Der folgende Beitrag beschreibt die fünf folgenreichsten Veränderungen des neuen Rechts und zeigt anhand von Praxisbeispielen, wie Gerichte, Betreuer und Familien seit 2023 mit den neuen Vorgaben arbeiten.
1. Interessenkonflikte führen nicht mehr automatisch zum Ausschluss
Ein neues Verständnis familiärer Verantwortung
Vor 2023 galt als fast zwingende Reaktion: Lag ein Interessenkonflikt vor, musste die Vertretungsbefugnis entzogen und ein anderer Betreuer bestellt werden. Dieser Automatismus führte dazu, dass Angehörige oft ausgeschlossen wurden, obwohl sie für große Teile der Betreuung geeignet geblieben wären.
Heute gilt ein anderes Prinzip: Der Gesetzgeber hat bewusst die Möglichkeit entfernt, einen Betreuer allein wegen eines Interessenkonflikts vollständig zu entziehen. Der Fokus liegt auf Erhalt funktionierender familiärer Strukturen.
Neue Werkzeuge statt grober Instrumente
Differenzierte Lösungen
Gerichte verfügen nun über feinere Mittel:
- Bestellung eines Mitbetreuers nur für den betroffenen Aufgabenkreis
- Teilentlassung nach § 1868 BGB statt kompletter Abberufung
- Ergänzungsbetreuung, wenn der Betreuer rechtlich verhindert ist
- Flexible Kombinationen, um Konflikte präzise einzugrenzen
Diese „chirurgischen Werkzeuge“ ersetzen das frühere „Alles-oder-nichts“-Szenario.
Praxisbeispiele
Vermögenssorge trotz privater Schulden
Ein Sohn verwaltet das Vermögen seiner Mutter, ist jedoch selbst verschuldet. Früher hätte dies zur vollständigen Entziehung geführt. Heute übernimmt ein externer Mitbetreuer nur die Vermögenssorge – die übrigen Bereiche bleiben beim Sohn.
Immobilienverkauf und emotionale Bindung
Ein Partner soll eine Immobilie verkaufen, während die betreute Person emotional stark am Haus hängt. Gerichte lösen dies heute durch Bestellung eines zweiten Betreuers ausschließlich für Immobilienfragen.
Streitereien zwischen Geschwistern
Zwei Geschwister streiten über ambulante versus stationäre Pflege. Das Gericht teilt die Aufgaben: Die Schwester entscheidet über Wohnfragen, der Bruder über medizinische Angelegenheiten.
2. Der Wille der betreuten Person ist nahezu unantastbar
Rechtlicher Wille statt „objektivem Wohl“
Der neue § 1821 Absatz 2 BGB fordert Betreuer ausdrücklich auf, die Wünsche der betreuten Person umzusetzen, selbst wenn diese objektiv unvernünftig erscheinen.
Nur erhebliche Selbstgefährdung rechtfertigt eine Abweichung.
Diese Wunschorientierung gilt auch und besonders bei der Wahl des Betreuers.
Prozessuale Stärkung durch die Rechtsprechung
Anhörungspflicht und Transparenz
Die BGH-Rechtsprechung seit 2023 verlangt, dass:
- Wunschbetreuer grundsätzlich zu bestellen sind
- Nur „gewichtige Gründe des Wohls“ dagegenstehen dürfen
- Vorwürfe gegen die gewählte Person umfassend aufgeklärt werden müssen
- Die gewünschte Person zwingend anzuhören ist
Gerichte müssen heute wesentlich genauer prüfen als früher.
Praxisbeispiele
Betreuerwahl trotz Konflikten im Pflegealltag
Eine demenzkranke Frau möchte ihre Tochter als Betreuerin. Pflegekräfte berichten von Konflikten. Der BGH korrigiert eine ablehnende Entscheidung: Ohne Anhörung der Tochter sei die Entscheidung rechtsfehlerhaft.
Verbleib in der eigenen Wohnung
Ein Mann mit Parkinson möchte nicht ins Pflegeheim. Ambulante Dienste erweitern den Pflegedienstplan – der Wille wird umgesetzt, da keine erhebliche Gefahr besteht.
Vertrauen statt Verwandtschaft
Eine Frau wünscht eine enge Freundin als Betreuerin. Die Geschwister sind dagegen. Da die Beziehung zur Freundin stabiler ist, ordnet das Gericht die Freundin an – der Wille hat Vorrang.
3. Vergangene Fehler disqualifizieren nicht für die Zukunft
Eine neue Sicht auf persönliche Entwicklung
Vor 2023 führten frühere Fehlverhalten häufig zur Einstufung als ungeeignet. Die Reform fordert dagegen eine Gesamtwürdigung und eine Prognoseentscheidung:
Entscheidend ist, ob die Person heute und künftig geeignet ist.
Ein prägender Fall: XII ZB 260/24 – ein Sohn, der zu Beginn überfordert war, später aber vorbildlich agierte.
Kriterien der modernen Eignungsprüfung
Zentrale Fragen sind:
- War der Vorfall Ausdruck einer vorübergehenden Ausnahmesituation?
- Wurde der Angehörige unterstützt, geschult oder begleitet?
- Gibt es eine stabile Entwicklung?
- Wie beurteilen Pflegeeinrichtungen das aktuelle Verhalten?
Fehler in der Vergangenheit verlieren an Gewicht, wenn Entwicklung sichtbar ist.
Praxisbeispiele
Überforderung in akuten Krisen
Ein Sohn fasst seiner demenzkranken Mutter im Pflegeheim mehrfach in die Windel, aus Sorge um ihre Pflege. Nach Schulungen zeigt er ein völlig anderes Verhalten. Die Prognose fällt positiv aus.
Alkoholprobleme nach erfolgreicher Therapie
Ein Angehöriger mit früherer Alkoholabhängigkeit meistert heute nachweislich stabile Abstinenz. Das Gericht erkennt die Veränderung an.
Familienstreit ohne Auswirkungen auf Betreuungsfähigkeit
Geschwister haben jahrelang gestritten, jedoch keinen Bezug zur Betreuung. Die frühere Konfliktgeschichte ist kein Ausschlusskriterium mehr.
4. Rechtliche Betreuung ist keine Entmündigung
Der größte Mythos des Betreuungsrechts
Noch immer glauben viele, dass rechtliche Betreuung automatisch Geschäftsunfähigkeit bedeutet.
Tatsächlich:
- Die Entmündigung wurde 1992 abgeschafft.
- Die betreute Person bleibt grundsätzlich geschäftsfähig.
- Verträge bleiben gültig, auch ohne Zustimmung des Betreuers.
Betreuung ist Unterstützung – kein Rechtsentzug.
Der Einwilligungsvorbehalt als Ausnahme
Voraussetzungen:
- Erhebliche Gefahr der Selbstschädigung
- Konkreter Aufgabenkreis
- Strikte Verhältnismäßigkeit
Selbst dann bleibt der Wille maßgeblich; der Betreuer darf nur ergänzend entscheiden.
Praxisbeispiele
Vertragsabschlüsse bleiben wirksam
Ein betreuter Mann kauft regelmäßig Unterhaltungselektronik. Solange er zahlungsfähig bleibt, sind die Verträge rechtswirksam.
Schutz vor finanzieller Selbstgefährdung
Eine Seniorin verschenkt hohe Geldbeträge an Fremde. Das Gericht ordnet einen Einwilligungsvorbehalt für Vermögenssorge an.
Wohnungskündigung ohne Einwilligungsvorbehalt
Eine betreute Person kündigt die Wohnung. Ohne Einwilligungsvorbehalt ist dies wirksam – der Betreuer muss den Umzug planen.
5. Der „Urlaubs-Vertreter“: Verhinderungsbetreuung erstmals vorsorglich möglich
Mehr Planungssicherheit durch § 1817 Absatz 4 BGB
Früher war die Bestellung eines Verhinderungsbetreuers nur möglich, wenn die Verhinderung bereits eingetreten war.
Heute kann das Gericht vorsorglich eine Ersatzperson benennen. Dies verbessert die Versorgung erheblich.
Unterscheidung der beiden Vertretungsformen
Verhinderungsbetreuer
Der Betreuer kann handeln, ist aber faktisch verhindert (Urlaub, Krankheit).
Ergänzungsbetreuer
Der Betreuer darf nicht handeln (z. B. Interessenkonflikt).
Praxisbeispiele
Sicherstellung der Entscheidungsfähigkeit während des Urlaubs
Ein Betreuer fährt für drei Wochen ins Ausland. Der Verhinderungsbetreuer übernimmt automatisch.
Reha-Aufenthalt ohne Versorgungslücken
Eine Betreuerin fällt mehrere Monate aus. Der vorsorglich bestellte Vertreter tritt nahtlos ein.
Krisenbedingter Ausfall
Ein Betreuer wird plötzlich ins Krankenhaus gebracht. Dank Vorsorge bleiben Fristen gewahrt.
Fazit: Ein System, das Selbstbestimmung ernst nimmt
Die Reform des Betreuungsrechts vollzieht einen Paradigmenwechsel. Sie stärkt:
- die Wünsche der betreuten Person
- die Rolle und Entwicklungschancen von Angehörigen
- die Präzision gerichtlicher Entscheidungen
- die Kontinuität und Planbarkeit von Betreuungen
Deutschland hat damit ein modernes, menschenrechtsorientiertes Betreuungsrecht geschaffen, das Unterstützung und Autonomie nicht länger als Gegensätze begreift.
Anhang A: Handlungsschritte für die Praxis
| Handlungsschritt | Ziel | Verantwortlich |
|---|---|---|
| Wünsche schriftlich erfassen | Orientierung an Willen | Betreuer |
| Interessenkonflikte identifizieren | Fehlervermeidung | Betreuer/Gericht |
| Mit- oder Ergänzungsbetreuung prüfen | Konfliktlösung | Gericht |
| Eignungsprognose erstellen | Zukunftsorientierung | Gericht |
| Einwilligungsvorbehalt prüfen | Schutz ohne Entzug | Gericht |
| Vorsorgliche Verhinderungsbetreuung beantragen | Kontinuität | Betreuer |
| Pflegeeinrichtungen einbinden | Konfliktprävention | Betreuer |
| Regelmäßige Überprüfung | Qualität | Gericht |
| Dokumentation sicherstellen | Rechtssicherheit | Betreuer |
| Beteiligte informieren | Transparenz | Betreuer |
Anhang B: Rechtsgrundlagen und Fundstellen
| Rechtsquelle | Inhalt | Bedeutung |
|---|---|---|
| § 1821 BGB | Vorrang der Wünsche | zentrale Leitnorm |
| § 1868 BGB | Teilentlassung | Konfliktlösung |
| § 1817 Abs. 4 BGB | Vorsorgliche Verhinderungsbetreuung | Planungssicherheit |
| BGH XII ZB 157/24 | Umgang mit Interessenkonflikten | Grundsatz |
| BGH XII ZB 260/24 | Eignungsprognose | zweite Chance |
| BGH XII ZB 513/24 | Betreuerwahl | Wille im Fokus |
| UN-BRK Art. 12 | Rechtsfähigkeit | internationale Basis |
Anhang C: Wichtigste Praxisimplikationen
- Der Wille der Betroffenen dominiert alle Entscheidungen.
- Interessenkonflikte führen nicht mehr zu automatischer Abberufung.
- Entwicklung wird stärker gewichtet als vergangene Fehler.
- Betreuung ist keine Entmündigung.
- Vorsorgliche Verhinderungsbetreuung erhöht Handlungssicherheit.
- Gerichte müssen individueller, genauer und verhältnismäßiger entscheiden.