Einführung: Das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) und seine steuerlichen Auswirkungen
Am 1. November 2024 trat das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) in Kraft. Es ermöglicht jeder volljährigen Person, den eigenen Geschlechtseintrag durch eine formlose Erklärung beim Standesamt zu ändern. Diese Änderung kann einmal pro Jahr erfolgen und erfordert keine medizinischen Nachweise oder Gutachten. Die Bundesregierung verfolgt mit dieser Reform das Ziel, das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung zu stärken und unnötige Hürden abzubauen.
Die Reform betrifft nicht nur gesellschaftliche Fragen, sondern hat auch unerwartete steuerliche Konsequenzen. Da das Steuerrecht in verschiedenen Bereichen geschlechtsspezifische Berechnungen vornimmt – beispielsweise durch die geschlechtsspezifischen Sterbetafeln des Statistischen Bundesamts – stellt sich die Frage, ob das SBGG zur Steueroptimierung genutzt werden kann. Besonders im Fokus steht die Berechnung von Leibrenten und Nießbrauchwerten nach § 14 Abs. 1 BewG, die geschlechtsspezifische Faktoren berücksichtigen.
Steuerliche Bedeutung des Geschlechtseintrags
Mit dem SBGG ist der im Personenstandsregister eingetragene Geschlechtseintrag auch für steuerliche Zwecke maßgeblich. Dies bedeutet:
- Steuerpflichtige können ihren Geschlechtseintrag nach Belieben ändern und damit steuerlich relevante Faktoren beeinflussen.
- Ein späterer Wechsel zurück zum ursprünglichen Geschlechtseintrag hat keine rückwirkende Wirkung auf Steuerbescheide (§ 173 Abs. 1 AO).
- Die Finanzverwaltung kann eine Änderung des Geschlechtseintrags nicht als Missbrauchstatbestand nach § 42 AO einstufen, da dies eine Nachweispflicht begründen würde, die gegen den Zweck des SBGG verstößt.
- Keine Nachweispflicht der Beweggründe für die Änderung gemäß § 42 Abs. 2 Satz 2 AO.
- Dreimonatsfrist des § 4 SBGG vor steuerlich relevanten Transaktionen muss beachtet werden.
Steuerliche Gestaltungsmöglichkeiten – Theorie und Praxis
Das SBGG eröffnet in bestimmten Fällen Möglichkeiten zur steuerlichen Gestaltung. Besonders relevant ist dies bei folgenden Sachverhalten:
- Schenkungen mit Nießbrauchsvorbehalt: Da die Sterbetafeln für Frauen eine höhere statistische Lebenserwartung ausweisen, ergibt sich bei einem weiblichen Eintrag ein höherer Kapitalwert des Nießbrauchs. Dies kann die Bemessungsgrundlage für die Schenkungsteuer reduzieren.
- Leibrentenverträge: Wird eine Unternehmensbeteiligung oder ein Wirtschaftsgut gegen Leibrente übertragen, kann ein Wechsel des Geschlechtseintrags die Höhe der steuerpflichtigen Leibrente beeinflussen.
Rechenbeispiel: Steuerliche Auswirkungen bei Nießbrauch
Ein Steuerpflichtiger überträgt eine Immobilie im Wert von 1.000.000 EUR und behält sich ein Nießbrauchsrecht mit einem jährlichen Nutzungswert von 40.000 EUR vor. Der Kapitalwert des Nießbrauchs wird anhand des geschlechtsspezifischen Vervielfältigers nach § 14 Abs. 1 BewG berechnet:
- Männer (Vervielfältiger: 10,5) → Kapitalwert Nießbrauch: 420.000 EUR → Steuerliche Bemessungsgrundlage: 580.000 EUR
- Frauen (Vervielfältiger: 12,8) → Kapitalwert Nießbrauch: 512.000 EUR → Steuerliche Bemessungsgrundlage: 488.000 EUR
Durch eine Änderung des Geschlechtseintrags von männlich auf weiblich vor der Schenkung würde sich die steuerliche Bemessungsgrundlage um 92.000 EUR senken. Bei einem Steuersatz von 15 % (Schenkungsteuerklasse I, z. B. Kinder) ergibt sich eine Steuerersparnis von 13.800 EUR.
Da die steuerlichen Vorteile nicht nachträglich aberkannt werden können, besteht hier eine potenzielle Steueroptimierungsmöglichkeit.
Kritische Betrachtung dieser Steuerstrategie
Obwohl diese Gestaltung auf den ersten Blick legal erscheint, birgt sie erhebliche Risiken und ethische Fragen:
- Mögliche Gesetzesänderungen: Es ist nicht auszuschließen, dass der Gesetzgeber nachträglich eine Missbrauchsverhinderungsklausel einführt, um eine rein steuerlich motivierte Nutzung des SBGG zu unterbinden.
- Prüfung durch die Finanzverwaltung: Auch wenn derzeit keine Nachweispflicht besteht, könnten neue Verwaltungsvorschriften oder BFH-Urteile eine schärfere Auslegung der bestehenden Regelungen zur steuerlichen Gestaltung bringen.
- Ethische und reputative Bedenken: Die strategische Nutzung eines Gesetzes, das primär der Stärkung geschlechtlicher Selbstbestimmung dient, könnte moralische Kritik hervorrufen und dem Ansehen der steuerlichen Beratungspraxis schaden.
- Praktische Hürden: Jede Änderung des Geschlechtseintrags hat Konsequenzen für Dokumente, Identifikationsnachweise und persönliche Rechtsverhältnisse. Ein häufiger Wechsel könnte zu administrativem Mehraufwand führen.
Fazit: Chancen und Risiken für Finanz- und Nachfolgeplaner
Das SBGG hat unbeabsichtigte steuerliche Auswirkungen, die in der Nachfolge- und Vermögensplanung nicht ignoriert werden können. Dennoch sollten Finanz- und Nachfolgeplaner Mandanten nicht aktiv zu einer strategischen Änderung des Geschlechtseintrags raten, da die rechtlichen, ethischen und praktischen Risiken derzeit nicht vollständig absehbar sind.
Langfristig ist es wahrscheinlich, dass der Gesetzgeber steuerliche Optimierungsmöglichkeiten durch das SBGG stärker reguliert. Bis dahin bleibt die Praxis unsicher – Finanz- und Nachfolgeplaner sollten sich der potenziellen Gestaltungsspielräume bewusst sein, aber gleichzeitig die Risiken realistisch bewerten.