Sitztheorie, Gründungstheorie, Verwaltungssitz und Ersatzerbschaftsteuer – Rechtsstand 2024/2025
1. Einleitung: Internationale Familienstiftungen im Fokus der Finanzaufsicht
Ausländische Familienstiftungen haben in der modernen Vermögens- und Nachfolgeplanung erheblich an Bedeutung gewonnen. Vermögende Familien setzen verstärkt auf intergenerationale Strukturen, um Vermögenswerte langfristig zu schützen, Governance zu verbessern und steuerliche Risiken zu steuern. Standorte wie Liechtenstein, Schweiz, Luxemburg, Malta und Zypern bieten flexible Stiftungsrechte, hochentwickelte Vermögensverwaltungssysteme und stabile Regulierungsrahmen.
Aus Sicht deutscher Finanzbehörden entsteht jedoch ein Spannungsfeld: Einerseits ist die Errichtung einer ausländischen Stiftung zivilrechtlich unproblematisch, andererseits kann die steuerliche Beurteilung diametral anders ausfallen, sobald Berührungspunkte mit Deutschland bestehen. Deutsche Steuerpflicht wird insbesondere dann ausgelöst, wenn die Stiftung aus deutscher Sicht als inländisch gilt – auch wenn sie formell nach ausländischem Recht gegründet wurde.
Zentrale Elemente sind:
- der tatsächliche Verwaltungssitz,
- die Frage der steuerlichen Ansässigkeit,
- sowie die Anwendung der Ersatzerbschaftsteuer.
Das BFH-Urteil vom 07.12.2023 (II R 30/22) hat die Rechtslage zusätzlich konkretisiert und die Bedeutung der Sitztheorie für ausländische Familienstiftungen deutlich gestärkt. Für Berater ergibt sich daraus eine höhere Komplexität, aber gleichzeitig ein klareres Raster zur Risikobeurteilung.
2. Sitztheorie und Gründungstheorie: Grundlagen und praktische Konsequenzen
2.1 Grundlegende Unterschiede
Zwei juristische Anknüpfungsmethoden bestimmen maßgeblich die Behandlung ausländischer Rechtsträger:
1. Sitztheorie
Deutschland knüpft steuerlich grundsätzlich an den Ort an, an dem die tatsächliche Geschäftsleitung ausgeübt wird. Dieser Verwaltungssitz definiert die steuerliche Ansässigkeit.
2. Gründungstheorie
Zivilrechtlich orientieren sich viele Staaten – darunter Liechtenstein oder die Schweiz – am Ort der Errichtung. Die Stiftung bleibt grundsätzlich dem Recht des Gründungsstaats unterworfen, auch wenn sie im Ausland tätig ist.
Damit ergibt sich ein Dualismus:
Zivilrechtlich gilt die Stiftung als liechtensteinisch oder schweizerisch, steuerlich kann sie dennoch vollständig in Deutschland ansässig sein, sobald der Verwaltungssitz hier liegt.
2.2 Steuerliche Relevanz 2024/2025
Die Finanzverwaltung folgt konsequent der Sitztheorie. Sie prüft daher nicht, wo die Stiftung gegründet wurde, sondern wo die geschäftsleitenden Entscheidungen tatsächlich getroffen werden.
Für die Praxis bedeutet dies:
- Eine im Ausland errichtete Stiftung kann steuerlich als inländisch gelten.
- Beschränkte Steuerpflicht entfällt, sobald die Entscheidungsebene im Inland liegt.
- Die Ersatzerbschaftsteuer kann greifen, obwohl keine formelle Inlandsstiftung vorliegt.
Dieser Ansatz hat erheblichen Einfluss auf Vermögensschutzmodelle, insbesondere bei Stiftungen, deren Begünstigte oder Entscheidungsträger in Deutschland ansässig sind.
2.3 Internationale Rechtsprechung und Tendenzen
Die deutsche Sitztheorie steht im Einklang mit internationalen Entwicklungen. Auch Großbritannien, Frankreich und Italien stellen zunehmend auf die tatsächliche Leitung ab. Damit wird der Ort der strategischen Entscheidungen weltweit zum Indikator steuerlicher Zugehörigkeit.
Für Stiftungen, die digitale Governance-Strukturen nutzen, etwa durch Remote-Sitzungen oder digitale Signaturplattformen, wird der Ort der IT-Nutzung zunehmend als Indiz gewertet. Die Praxis beobachtet seit 2021 einen Trend, den Verwaltungssitz durch digitale Muster sichtbar zu machen.
3. Der Verwaltungssitz: Kriterien, Dokumentationspflichten und typische Fehler
3.1 Kriterien zur Bestimmung des Verwaltungssitzes
Die Rechtsprechung definiert die tatsächliche Geschäftsleitung als Ort, an dem die wesentlichen unternehmerischen Entscheidungen getroffen werden. Bei Familienstiftungen umfasst dies insbesondere:
- Strategische Anlageentscheidungen
- Entscheidungen über Ausschüttungen
- Ernennungen und Abberufungen von Organen
- Genehmigungen von Vermögensübertragungen
- Bestimmungen über Änderungen des Stiftungszwecks
- Weisungen an Vermögensverwalter
Wesentliche Indikatoren für einen Verwaltungssitz im Inland sind:
- Sitzungen des Stiftungsrats überwiegend in Deutschland
- Unterschriftsleistungen durch deutsche Organe
- Zentrale Kommunikation und digitale Beschlussfassungen von Deutschland aus
- Nutzung deutscher Vermögensverwaltung und Treuhanddienstleister
- Speicherung des digitalen Verwaltungsarchivs auf Servern in Deutschland
- Geschäftsführende Personen mit Lebensmittelpunkt im Inland
Die Finanzverwaltung betrachtet dabei stets das Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse.
3.2 Dokumentations- und Meldepflichten
Berater sollten Mandanten zwingend auf die Bedeutung konsequenter Dokumentation hinweisen. Empfehlenswert sind:
- schriftliche Protokolle zu allen Sitzungen, inklusive Ort und Teilnehmer
- Reisekostenbelege zur physischen Sitzung im Ausland
- schriftliche Delegationsvereinbarungen mit ausländischen Managementgesellschaften
- Nachweis über die Nutzung ausländischer Büroräume
- klare Trennung zwischen Familienentscheidungen und operativer Geschäftsführung
- periodische Compliance-Reviews
Hinzu treten Meldepflichten:
- Mitteilungspflichten bei ausländischen Rechtsträgern nach § 138 AO
- Ergänzende steuerliche Erklärungs- und Offenlegungspflichten
- Dokumentationspflichten nach § 90 Abs. 2 AO
- DAC6-Meldepflichten bei potenziell aggressiven Steuergestaltungen
3.3 Typische Fehler in der Praxis
Typische Fallstricke sind:
- digitale Verwaltung vom deutschen Wohnsitz aus („Remote-Stiftungsrat“),
- Nutzung deutscher Family-Office-Strukturen ohne Abgrenzung zur Stiftung,
- fehlende protokollarische Nachweise des Entscheidungsortes,
- Entscheidungsordnungen, die faktisch in Deutschland ausgeübt werden, trotz ausländischer Treuhänder.
Die Konsequenz ist oft eine ungewollte vollständige Inlandsbesteuerung.
4. Die Ersatzerbschaftsteuer: Mechanik, Rechtsprechung und Risiken
4.1 Grundprinzip der Ersatzerbschaftsteuer
Stiftungen entziehen Vermögen dauerhaft der Erbschaftsteuer. Um diesen Effekt auszugleichen, erhebt Deutschland nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG eine Ersatzerbschaftsteuer. Sie fällt alle 30 Jahre an und orientiert sich an der Steuerklasse I.
Die Berechnung erfolgt als:
Steuer = Stiftungskapital × Steuersatz nach Steuerklasse I
Der Steuersatz beträgt bis zu 30 Prozent, abhängig von der jeweiligen Struktur und den Begünstigtenkonzepten.
4.2 Konsequenzen des BFH-Urteils II R 30/22
Das Urteil hat folgenden Kern:
- Entscheidend ist allein der tatsächliche Verwaltungssitz.
- Eine ausländische Stiftung kann als inländische Familienstiftung gelten.
- Die Ersatzerbschaftsteuer greift dann zwingend – unabhängig von zivilrechtlichen Besonderheiten.
- Der 30-Jahreszeitpunkt wird streng berechnet; Unterbrechungen oder Verschiebungen sind ausgeschlossen.
- Unerheblich ist, ob die Stiftung reale Inlandsvermögen hält.
Damit trifft die Steuer insbesondere Stiftungen, die jahrelang „halbinländisch“ geführt wurden, etwa durch deutsche Familienmitglieder oder Manager.
4.3 Finanzielle Tragweite
Nach Auswertung internationaler Stiftungsstatistiken liegen typische Stiftungskapitalien zwischen:
- 5–30 Mio. EUR bei mittelgroßen Familienstrukturen
- 50–250 Mio. EUR bei unternehmerisch geprägten Vermögensstrukturen
- über 250 Mio. EUR bei Multi-Family-Office-Strukturen
Eine Ersatzerbschaftsteuer von 30 Prozent kann somit zu Belastungen von:
- 1,5 Mio. EUR bei 5 Mio. Stiftungskapital
- 9 Mio. EUR bei 30 Mio. Stiftungskapital
- 75 Mio. EUR bei 250 Mio. Stiftungskapital
Gerade bei wachstumsorientierten Stiftungen entsteht eine substanzielle Liquiditätsbelastung.
5. Drei bis fünf Praxisbeispiele aus der Beratungspraxis
Beispiel 1: Liechtensteinische Familienstiftung mit deutschem Verwaltungsschwerpunkt
Eine Stiftung wird in Vaduz errichtet. Die Familie lebt in München, der Stiftungsrat besteht überwiegend aus Familienmitgliedern. Sitzungen werden aus praktischen Gründen per Videokonferenz gehalten, die IT-Infrastruktur steht in Deutschland.
Ergebnis: Verwaltungssitz in Deutschland – vollständige Steuerpflicht und Ersatzerbschaftsteuer.
Beispiel 2: Schweizer Stiftung mit professioneller externer Verwaltung
Eine Zürcher Managementgesellschaft führt operative und strategische Entscheidungen aus. Die Familie erhält nur Berichte. Die Stiftungsratssitzungen finden nachweislich in Zürich statt.
Ergebnis: Kein inländischer Verwaltungssitz – lediglich beschränkte Steuerpflicht.
Beispiel 3: Vermögensverwaltende Stiftung mit deutschen Vermögenswerten
Eine maltesische Stiftung hält Beteiligungen an deutschen Immobiliengesellschaften. Die Geschäftsleitung erfolgt jedoch ausschließlich in Malta.
Ergebnis: beschränkte deutsche Steuerpflicht, aber keine Ersatzerbschaftsteuerpflicht, da kein deutscher Verwaltungssitz.
Beispiel 4: Remote-Struktur mit unklarer Governance
Eine zypriotische Stiftung wird durch deutsche Family-Office-Mitglieder digital verwaltet. Entscheidungen erfolgen über deutsche Server.
Ergebnis: Verwaltungssitz wahrscheinlich in Deutschland; Risiko der rückwirkenden Steuerunterwerfung über mehrere Jahre.
Beispiel 5: Stiftungsträgerwechsel ohne Governance-Anpassung
Eine liechtensteinische Stiftung wechselt 2024 zu einem ausländischen Treuhänder, aber Entscheidungen fallen weiterhin im Familientreffen in Stuttgart.
Ergebnis: Treuhänderwechsel irrelevant – Verwaltungssitz bleibt Deutschland.
6. Handlungsempfehlungen für Beraterinnen und Berater
6.1 Governance-Optimierung
Beratungsschwerpunkte sollten folgende Maßnahmen betreffen:
- klare Delegation der Entscheidungsbefugnisse ins Ausland
- Nutzung eines professionellen ausländischen Managements
- Einrichtung physischer und digitaler Infrastruktur im Ausland
- regelmäßige Präsenz der Entscheidungsträger am ausländischen Stiftungsort
6.2 Dokumentation als Kern der Verteidigungsstrategie
Eine belastbare Dokumentation ist essenziell:
- Sitzungsorte
- Entscheidungsabläufe
- digitale Zugriffsketten
- Nachweise tatsächlicher Geschäftsleitung
6.3 Frühwarnsysteme und Audit-Pflichten
Empfohlen wird ein jährlicher „Sitz-Audit“:
- Wo fanden Entscheidungen statt?
- Wer hatte Zugriff auf digitale Systeme?
- Welche Mitarbeiter oder Dienstleister waren involviert?
- Wurden alle Meldepflichten erfüllt?
6.4 Deutschland-Bezug vermeiden oder bewusst gestalten
Entscheidend ist, ob eine Stiftung bewusst als internationale Struktur geführt wird – oder ob eine verdeckte Inlandssteuerpflicht entsteht. Berater müssen klare Strukturen schaffen, die im Prüfungsfall Bestand haben.
Anhang A – Handlungsschritte (Tabelle)
| Handlungsschritt | Ziel | Dokumentationsbedarf |
|---|---|---|
| Governance-Analyse | Prüfung des Verwaltungssitzes | Protokolle, Organlisten |
| Sitzverlagerung prüfen | Reduktion deutscher Steuerpflicht | Sitzungsnachweise, Mandatsverträge |
| Professionelles Management beauftragen | Ausländische Leitung stärken | Treuhandverträge |
| Digitale Infrastruktur verlagern | Remote-Risiken minimieren | IT-Protokolle |
| Jahres-Audit durchführen | Frühwarnsystem | Jahresbericht |
| Meldepflichten erfüllen | Rechtssicherheit | Nachweisunterlagen |
| Ausschüttungspolitik anpassen | steuerliche Optimierung | Ausschüttungsbeschlüsse |
| Vermögensstruktur überprüfen | Steuerlast minimieren | Depot- und Beteiligungsunterlagen |
| Vorbereitung auf 30-Jahres-Zeitpunkt | Liquiditätsplanung | Finanzplanung |
| Compliance-Handbuch erstellen | Standardisierte Prozesse | interner Leitfaden |
Anhang B – Rechtliche Quellen (Tabelle)
| Rechtsquelle | Fundstelle | Relevanz |
|---|---|---|
| ErbStG §1 Abs. 1 Nr. 4 | Bundesgesetzblatt | Ersatzerbschaftsteuer |
| AO § 90 Abs. 2 | Abgabenordnung | Dokumentationspflicht |
| AO § 138 | Abgabenordnung | Mitteilungspflichten |
| BFH II R 30/22 | Urteil vom 07.12.2023 | Verwaltungssitz und Ersatzerbschaftsteuer |
| DBA-Staaten | je nach Sitzstaat | Doppelbesteuerung |
| Liechtenstein Stiftungsrecht | PGR Art. 552 | Zivilrechtliche Grundlagen |
| Schweizer ZGB | Art. 80–89bis | Stiftungsrecht CH |
Anhang C – Praxisimplikationen
- Ausländische Familienstiftungen sind aus deutscher Sicht nur dann „ausländisch“, wenn der Verwaltungssitz konsequent im Ausland liegt.
- Fehlende oder schlampige Dokumentation führt schnell zur vollständigen Inlandsbesteuerung.
- Das BFH-Urteil 2023 verschärft die Pflicht zur exakten Governance-Strukturierung.
- Die Ersatzerbschaftsteuer kann erhebliche Substanzverluste verursachen; Liquiditätsplanung ist Pflicht.
- Digitale Entscheidungsstrukturen und Remote-Work erhöhen das Risiko eines „faktischen deutschen Verwaltungssitzes“.
- Berater müssen Governance, Meldepflichten und steuerliche Auswirkungen jährlich überprüfen.