Wenn brutto nicht mehr reicht
Die Diskussion um die finanzielle Belastung im Ruhestand ist längst keine theoretische mehr – sie ist konkret und zunehmend steuerlich geprägt. Wer heute in Deutschland eine gesetzliche, betriebliche oder private Rente bezieht, kommt kaum noch ohne Steuerbescheid aus. Laut Angaben des Statistischen Bundesamtes waren 2024 rund 70 % der Rentenleistungen einkommensteuerpflichtig – das entspricht rund 282,6 Milliarden Euro von insgesamt 403 Milliarden Euro ausgezahlter Renten.
Besonders auffällig: Der durchschnittliche Besteuerungsanteil ist seit 2015 um 15 Prozentpunkte gestiegen – eine Entwicklung mit erheblicher Tragweite für die Netto-Situation älterer Menschen. Die Finanzplanung im Ruhestand wird damit zu einem hochdynamischen Thema, das klare Beratung, frühzeitige Weichenstellung und steuerliche Weitsicht erfordert.
I. Hintergrund: Die Besteuerung der Rente im Wandel
Gesetzliche Grundlage: Das Alterseinkünftegesetz
Seit der Reform durch das Alterseinkünftegesetz (AltEinkG) im Jahr 2005 unterliegt die gesetzliche Rente zunehmend der nachgelagerten Besteuerung. Wer heute neu in Rente geht, muss einen immer höheren Anteil der Rente versteuern – im Jahr 2025 liegt der Besteuerungsanteil bei 85 %.
Dynamik der Entwicklung: Steuerpflichtige Leistungen steigen stetig
Die Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen eine klare Richtung:
- 2023: ca. 66 % steuerpflichtige Leistungen
- 2024: ca. 70 %
- Erwartet bis 2040: 100 % steuerlicher Erfassungsanteil für Neurentner
Die Kombination aus höherem Rentenbeginnalter, gestiegenen Rentenbezügen und reduzierten Freibeträgen verschärft die Lage zusätzlich – auch wegen der zunehmenden Kumulierung mit betrieblichen oder privaten Renten und Kapitaleinkünften.
II. Praxisrelevanz für die Finanz- und Nachfolgeplanung
Fehleinschätzung: „Meine Rente ist doch steuerfrei“
Nach wie vor gehen viele Mandanten davon aus, dass ihre Rentenleistungen nicht oder nur geringfügig versteuert werden. Das trifft zunehmend seltener zu. Besonders gefährlich: Die Steuerpflicht ergibt sich oft nicht aus der gesetzlichen Rente allein, sondern aus der Kombination mehrerer Einkunftsarten, etwa:
- Betriebsrente (Direktzusage, Unterstützungskasse)
- Kapitalauszahlungen aus privaten Rentenversicherungen
- Kapitalerträge (Depotstruktur)
- Vermietungseinkünfte
Beratungsschwerpunkt: Zeitliche Steuerung der Einkünfte
Ein zentraler Ansatzpunkt ist die gezielte Verteilung von Einkünften über die Jahre:
- Verschiebung des Rentenbeginns
- Glättung von Kapitalentnahmen
- Kombination mit Freibetragsstrategien
- Vermeidung von Progressionsspitzen
III. Drei Fallbeispiele aus der Praxis
1. Rentenverschiebung mit steuerlicher Entlastung
Ein Mandant wollte mit 63 Jahren in Rente gehen, verfügte aber über liquide Mittel. Durch die gezielte Verschiebung auf 65 unter Ausnutzung des Sparer-Pauschbetrags und die Zwischenentnahme aus einem thesaurierenden ETF-Depot konnte die Steuerlast in der Rentenphase deutlich gesenkt werden.
Ergebnis:
Steuerersparnis über 10 Jahre: rund 12.500 Euro
2. Kombination von Sofortrente und Teilverrentung
Ein Unternehmer ließ sich seine Direktversicherung verrenten, während er parallel eine Teilverrentung seiner gesetzlichen Rente auf 50 % vereinbarte. Damit wurde die Gesamtsteuerbelastung bei gleichzeitigem Erhalt von Liquidität und Krankenkassenbeiträgen optimiert.
Ergebnis:
Progressionsmilderung im Übergang – steuerlich glattgezogen über 5 Jahre
3. Private Depotstruktur zur Pufferung von Renteneffekten
Eine alleinstehende Mandantin mit zwei Rentenbezugsquellen konnte durch gezielte Entnahme aus ihrem ETF-Depot Freibeträge nutzen und gleichzeitig die volle Besteuerung einer kleinen Betriebsrente umgehen.
Ergebnis:
Netto-Vorteil: ca. 8.000 Euro in den ersten 7 Rentenjahren
IV. Handlungsoptionen und strategische Impulse
Beratungsansätze für die Praxis
- Vorweg-Besteuerungscheck: Simulationsrechnung mit allen Einkunftsarten
- Rentenbeginn-Strategie: Analyse der optimalen Startzeitpunkte
- Kapitalentnahme-Planung: Glättung, Staffelung, Teilentnahmen
- Berücksichtigung Freibeträge: Grundfreibetrag, Sparerpauschbetrag, Günstigerprüfung
- Progressionskurven prüfen: Kombination mit weiteren Renten- oder Mieteinnahmen
Wichtig: Compliance und Dokumentation
- Alle Strategien müssen nachvollziehbar dokumentiert werden
- Ggf. Anlage Vorsorgeaufwand, Anlage R, Anlage KAP anpassen
- Fremdvergleichsgrundsatz bei interner Übertragung (z. B. Ehegattensplitting) beachten
- Meldepflichtige Sachverhalte (z. B. Direktversicherungen, bAV) aktiv im Blick behalten
V. Fazit: Netto ist nicht gleich Netto – Beratung macht den Unterschied
Die Entwicklung der Rentenbesteuerung macht deutlich: Ruhestand beginnt nicht mit dem Rentenbescheid – er beginnt mit einem durchdachten Finanzplan. Wer nur auf die Bruttowerte vertraut, übersieht Risiken – und verschenkt Gestaltungspotenziale. Die Herausforderung für Finanz- und Nachfolgeplaner besteht darin, steuerliche Realität, Rentenstruktur und individuelle Lebensplanung zu einem verlässlichen Gesamtbild zu vereinen. Es geht nicht darum, Steuern zu vermeiden – sondern sie in den Dienst der Lebensqualität zu stellen.