5. Wissensforum Heilberufe | Ein Nachbericht
Beim 5. Wissensforum Heilberufe räumte Frank Boos, einer der führenden Sachverständigen für Praxisbewertungen in Deutschland, mit veralteten Bewertungsmethoden auf. Seine klare Botschaft: Nur das modifizierte Ertragswertverfahren nach BGH-Rechtsprechung liefert rechtssichere Ergebnisse.
Die 1,5-Millionen-Euro-Falle
Gleich zu Beginn präsentierte Boos ein alarmierendes Beispiel: Eine Praxis mit 280.000 Euro Jahresgewinn. Nach dem modifizierten Ertragswertverfahren ergibt sich ein ideeller Wert von 270.000 Euro. Das vereinfachte Ertragswertverfahren der Finanzverwaltung (§§ 199-203 BewG) kommt jedoch auf 1,5 Millionen Euro.
„Das ist schon ein Unterschied, ob ich mit 1,5 Millionen reingehe oder mit 270.000″, kommentierte Boos. Die gute Nachricht: Der Bundesfinanzhof hat 2020 entschieden, dass Steuerpflichtige durch ein qualifiziertes Sachverständigengutachten einen niedrigeren Wert nachweisen können.
Boos’ dringender Appell: Bei Schenkungen und Erbschaften prophylaktisch ein Gutachten erstellen lassen – dann agiert man in der Veranlagung und nicht später im Rechtsbehelfsverfahren. „Ich habe aktuell bestimmt 15 Verfahren nur gegen die Finanzverwaltung.”
BGH-Rechtsprechung seit 2011: Die klaren Regeln
Seit 2011 für Freiberufler, seit 2017 auch für inhabergeführte Unternehmen gilt: Das modifizierte Ertragswertverfahren ist der Standard. Die Kernpunkte:
- Reproduktionszeitraum: Wie lange würde der Aufbau der Praxis an diesem Standort dauern?
- Standort ist entscheidend: München oder ländlicher Raum macht einen gewaltigen Unterschied
- Individueller Unternehmerlohn: Abhängig von Qualifikation, Fachgebiet und Arbeitszeit
- Nettobewertung: Immer nach Ertragssteuern (typisiert 35%)
- Transparenz: Gutachten müssen verständlich sein
München vs. Wolgast: Der Standortfaktor
Das eindrucksvollste Beispiel war der Vergleich zweier identischer Zahnarztpraxen:
| Standort | Gewinn | Ergebniszeitraum | Ideeller Wert |
|---|---|---|---|
| München | 280.000 € | 4,2 Jahre | 436.000 € |
| Wolgast | 280.000 € | 0,6 Jahre | 62.000 € |
Der Unterschied? Der volkswirtschaftliche Faktor berücksichtigt Kaufkraft, Bevölkerungsdichte, Altersstruktur und Konkurrenzsituation. München profitiert von hoher Kaufkraft und dichter Besiedlung, Wolgast kämpft mit strukturellen Herausforderungen.
Die Formel: So funktioniert das Verfahren
$$\text{Praxiswert} = \text{Ideeller Wert (Goodwill)} + \text{Zeitwert Sachanlagevermögen}$$
Für den ideellen Wert gilt:
- Umsatzprognose minus Kostenprognose
- Minus individueller Unternehmerlohn
- Minus typisierte Steuern (35%)
- = Nachhaltiger Netto-Reinertrag
- Multipliziert mit Reproduktionszeitraum
Zeitwert Sachanlagevermögen: Nicht die Buchwerte aus dem Anlagenverzeichnis sind maßgeblich, sondern die tatsächlichen Zeitwerte basierend auf Wiederbeschaffungskosten.
Die zwei Stellschrauben
1. Der Ergebniszeitraum (Multiplikator)
„Das ist der wichtigste Faktor überhaupt”, betonte Boos. Er berücksichtigt:
- Größe der Praxis (Einzelpraxis vs. große BAG)
- Standortqualität
- Konkurrenzsituation
- Patientenstruktur und Spezialisierung
2. Der individuelle Unternehmerlohn
Hochindividuell nach Qualifikation, Arbeitszeit und Tätigkeit. Ein Beispiel: Bei 40 Wochenstunden betrug der ideelle Wert 436.000 Euro, bei 60 Stunden nur noch 273.000 Euro.
Theorie trifft Praxis: Die Marktpreise
Boos zeigte anhand von Bankstatistiken, dass das modifizierte Ertragswertverfahren die Marktpreise präzise abbildet:
- Hausarztpraxis: Marktwert 68.000 € | Berechneter Wert 67.700 €
- Zahnarztpraxis: Marktwert 136.875 € | Berechneter Wert 135.000 €
- Augenarztpraxis: Marktwert 243.000 € | Berechneter Wert 236.000 €
Das Verfahren funktioniert auch bei sehr großen Praxen: Eine Radiologie mit zweistelligem Millionengewinn wurde mit dem Verfahren auf 62 Millionen Euro bewertet – der gesellschaftsvertraglich vereinbarte Preis lag bei 64 Millionen Euro.
Wichtige Warnungen für die Praxis
Gesellschaftsverträge und Scheidung
„Gesellschaftsvertragliche Regelungen binden nur die Partner untereinander”, warnte Boos. Bei einer Scheidung interessiert den BGH nicht, was im Gesellschaftsvertrag steht – maßgeblich ist der tatsächliche Verkehrswert. Eine potenzielle Zeitbombe für Praxisgemeinschaften.
Strategische Preise sind kein Maßstab
Die extrem hohen Preise, die strategische Investoren in der Vergangenheit für Zahnarzt-, Dialyse- oder Radiologiepraxen zahlten, haben nichts mit objektiviertem Wert zu tun. Sie müssen bei der Bewertung außen vor bleiben.
§ 103 Abs. 4 SGB V wird umgangen
In gesperrten Gebieten bildet der Verkehrswert die Preisobergrenze. Investoren umgingen dies, indem sie Praxen direkt in MVZ-GmbHs eingliederten und der Inhaber danach auf die Zulassung verzichtete. „Der Gesetzgeber hätte das einfach verhindern können”, so Boos.
Fazit: Keine einfachen Formeln mehr
„Aus falschen Werten kann man nichts Richtiges basteln”, fasste Boos zusammen. Faustformeln wie „Jahresgewinn” oder Kombinationen aus Umsatz und Gewinn sind nicht nur ungenau, sondern rechtlich wertlos. Besonders problematisch: Manche Gutachter bilden aus acht verschiedenen Verfahren einen Durchschnitt. „Das ist denklogisch falsch.”
Seine Empfehlung an alle Teilnehmer:
- Bei Schenkung/Erbschaft prophylaktisch ein Gutachten erstellen lassen
- Gesellschaftsverträge auf Realitätsnähe prüfen
- Nur mit dem modifizierten Ertragswertverfahren arbeiten
- Bei Fragen: Frühzeitig qualifizierte Sachverständige einbeziehen
Frank Boos bot den Teilnehmern an, sich bei Fragen jederzeit telefonisch zu melden – ein Angebot, das die Praxisnähe und Serviceorientierung des Experten unterstreicht.
Über den Referenten: Frank Boos ist öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Unternehmensbewertung. Sein Büro erstellt jährlich 120-130 Wertgutachten, davon 80-85% für Heilberufe. Er ist Co-Autor mehrerer Fachbücher zum modifizierten Ertragswertverfahren.
Kontakt für Rückfragen: Die Kontaktdaten sind über das IFFUN-Netzwerk erhältlich.