
Der Tod eines Mandanten markiert für Finanz- und Nachfolgeplaner keineswegs das Ende der steuerlichen Betreuung. Vielmehr beginnt eine neue, oft unterschätzte Phase der Beratung, die weit über die klassische Erbschaftsteuer hinausgeht. Die steuerlichen Pflichten des Verstorbenen gehen vollumfänglich auf die Erben über und erfordern eine strukturierte, zeitnahe Bearbeitung. Dabei entstehen nicht nur Risiken durch versäumte Fristen oder übersehene Pflichten, sondern auch erhebliche Optimierungspotenziale, die bei sachkundiger Begleitung realisiert werden können.
Die Gesamtrechtsnachfolge: Mehr als nur Vermögensübertragung
Mit dem Eintritt der Gesamtrechtsnachfolge nach § 1922 Abs. 1 BGB übernehmen Erben nicht nur das materielle Vermögen des Verstorbenen. Gemäß § 45 AO gehen sämtliche steuerlichen Rechte und Pflichten aus dem Steuerschuldverhältnis auf die Erben über. Diese umfassende Rechtsnachfolge beinhaltet ein komplexes Bündel von Verpflichtungen, das in der Beratungspraxis systematisch abgearbeitet werden muss.
Die Erben sind verpflichtet, ausstehende Einkommensteuererklärungen des Verstorbenen abzugeben, Steuerbescheide entgegenzunehmen und bei Ermittlungsverfahren nach §§ 90 ff. AO mitzuwirken. Besonders relevant ist die Tatsache, dass auch Betriebsprüfungen für Zeiträume vor dem Erbfall zu dulden sind, wie der BFH bereits 1978 entschied (BFH 9.5.78, VII R 96/75). Zusätzlich müssen alle Steuerschulden des Verstorbenen beglichen werden, einschließlich steuerlicher Nebenleistungen wie Verspätungszuschläge (§ 152 AO), Zinsen (§§ 233 ff. AO) oder Säumniszuschläge (§ 240 AO).
Eine wichtige Ausnahme bildet das Zwangsgeld. Wurde gegen den Verstorbenen ein solches festgesetzt, geht es gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 AO nicht auf den Erben über, da es sich um eine personenbezogene Sanktionsmaßnahme handelt. Das Finanzamt kann jedoch gegen den Erben ein neues Zwangsgeld androhen, wenn dieser den geerbten Pflichten nicht nachkommt.
Die zeitliche Abgrenzung der Steuerpflicht ist präzise geregelt: Sie endet exakt mit dem Todestag. Erst ab dem Folgetag werden alle aus dem Erbe stammenden Einkünfte dem Erben zugerechnet. Bei Erbengemeinschaften entsteht eine besondere Konstellation: Bis zur Auflösung müssen die Erben für jedes Jahr eine gesonderte und einheitliche Feststellungserklärung für die gemeinschaftlich erzielten Einkünfte einreichen. Jeder Miterbe versteuert anschließend nur die auf seinen Erbteil entfallenden Einkünfte.
Abgabe von Steuererklärungen und strategisches Fristenmanagement
Pflichtabgaben und Fristverlängerungen
Die Abgabe von Einkommensteuererklärungen für den Verstorbenen ist eine Kernaufgabe der Erben. Insbesondere für das Todesjahr ist dies in der Regel unerlässlich, da der Erblasser diese naturgemäß nicht mehr selbst einreichen konnte. Die Erklärungen sind an das bisherige Wohnsitzfinanzamt des Verstorbenen zu senden, wobei die üblichen Abgabefristen gelten.
Tritt der Tod kurz vor oder nach Ablauf einer Abgabefrist ein, sollten Erben umgehend einen Antrag auf rückwirkende Fristverlängerung gemäß § 109 Abs. 1 AO stellen. Die Finanzämter zeigen sich hier in der Praxis meist kulant, da den Erben in solchen Ausnahmesituationen oft keine rechtzeitige Abgabe zuzumuten ist. Eine gewährte Verlängerung schützt vor Verspätungszuschlägen für den Zeitraum der zusätzlichen Frist.
Freiwillige Steuererklärungen: Versteckte Erstattungspotenziale
Auch wenn der Verstorbene nicht zur Abgabe einer Einkommensteuererklärung verpflichtet war, sollten Erben stets eine freiwillige Veranlagung prüfen. Die Praxis zeigt, dass dies in vielen Fällen zu erheblichen Steuererstattungen führt.
Beispiel Arbeitnehmer: Ein Angestellter mit einem Jahresbruttolohn von 72.000 Euro verstirbt im April 2025. Das tatsächliche Einkommen beträgt nur 24.000 Euro (vier Monate). Die einbehaltene Lohnsteuer basierte auf der Annahme des vollen Jahreseinkommens:
Geplante Lohnsteuer = 72.000 Euro × Steuersatz
Tatsächliche Steuerschuld = 24.000 Euro × niedrigerer Steuersatz
Die Differenz führt zu einer erheblichen Erstattung.
Bei Kapitalerträgen können Erben über die Anlage KAP eine Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG beantragen. Wurde Kapitalertragsteuer einbehalten, obwohl der individuelle Steuersatz niedriger als 25 % ist, ergibt sich ein Erstattungsanspruch.
Für rückwirkende Steuererklärungen haben Erben vier Jahre Zeit. Im Jahr 2025 können somit noch Erklärungen bis einschließlich 2021 abgegeben werden (§ 169 Abs. 2 Satz 2, § 170 Abs. 1 AO), was erhebliche nachträgliche Erstattungspotenziale birgt.
Systematische Datenerfassung und Informationsbeschaffung
Die Beschaffung steuerlich relevanter Daten stellt oft die größte praktische Herausforderung dar. Ein systematisches Vorgehen ist unerlässlich:
ELSTER-Online-Portal: Hat sich der Verstorbene registriert und einem Belegabruf zugestimmt, können Erben wichtige Informationen zu Lohn-, Renten- und Pensionseinkünften sowie zu geleisteten Beiträgen abrufen.
Banken und Versicherungen: Mit dem Erbschein lassen sich Kontoauszüge und Versicherungsunterlagen einsehen, die Aufschluss über Zahlungsverkehr, Einkünfte und steuerlich relevante Ausgaben geben.
Steuerberater oder Lohnsteuerhilfeverein: Diese verfügen über den vollständigen Aktenbestand und können die Beratung fortführen oder notwendige Daten zur Verfügung stellen.
Finanzamt: Mit dem Erbschein können Erben beim Finanzamt des Verstorbenen Kopien der letzten Steuererklärung und des letzten Steuerbescheids anfordern. Bei Zusammenveranlagung ist die Zustimmung des überlebenden Ehegatten erforderlich.
Berichtigungspflichten: Positive Kenntnis als Maßstab
Entdecken Erben fehlerhafte Steuererklärungen des Verstorbenen, die zu einer zu geringen Steuerfestsetzung führten, besteht eine Berichtigungspflicht nach § 153 Abs. 1 AO – allerdings nur bei bisher nicht eingetretener Festsetzungsverjährung.
Entscheidend ist, dass die Berichtigungspflicht nur bei tatsächlicher positiver Kenntnis des Fehlers greift. Ein “hätte erkennen müssen” oder “hätte erkennen können” reicht nicht aus. Erben sind nicht verpflichtet, aktiv nach Fehlern zu suchen. Diese Rechtslage schützt vor übermäßigen Nachforschungspflichten und begrenzt das Haftungsrisiko auf tatsächlich bekannte Sachverhalte.
Veranlagungswahlrecht und Splittingverfahren optimieren
Zusammenveranlagung mit dem überlebenden Ehegatten
Liegen die Voraussetzungen für eine Zusammenveranlagung vor, sollte diese gemeinsam mit dem überlebenden Ehegatten beantragt werden (BFH 13.11.79, VIII R 193/77). Die Zusammenveranlagung führt regelmäßig zu einer niedrigeren Steuerbelastung als die Einzelveranlagung, und das nicht nur für das Todesjahr, sondern auch für vergangene Jahre.
Bei Erbengemeinschaften muss das Veranlagungswahlrecht einheitlich durch alle Erben ausgeübt werden (BFH 8.10.97, XI R 20/97). Dies erfordert eine koordinierte Abstimmung innerhalb der Gemeinschaft.
Witwensplitting strategisch nutzen
Eine oft übersehene Optimierungsmöglichkeit ist das Witwensplitting nach § 32a Abs. 6 Nr. 1 EStG. War der Verstorbene bereits verwitwet, kann er auch im Folgejahr nach dem Tod seines Ehegatten noch vom Splittingverfahren profitieren.
Beispiel: Stirbt ein Ehegatte im Jahr 2024 und der überlebende Partner im Jahr 2025, kann für 2025 noch das Splittingverfahren angewendet werden. Erst ab 2026 findet der ungünstige Grundtarif Anwendung.
Bescheidbekanntgabe und Einspruchsverfahren
Zukünftige Steuerbescheide müssen direkt an den Erben adressiert werden, nicht an den Verstorbenen. Bei Erbengemeinschaften sind alle Miterben als Bekanntgabe- und Inhaltsadressaten aufzuführen (AEAO zu § 122, Tz. 2.12.2). Ein fälschlicherweise an den Verstorbenen adressierter Bescheid ist unwirksam (BFH 24.3.70, I R 141/69).
Bestehende Vollmachten nach § 80 AO bleiben über den Tod hinaus wirksam. Der Erbe kann diese bei Bedarf widerrufen.
Das Einspruchsrecht geht auf den Erben über, wenn die Frist des § 355 AO noch nicht abgelaufen ist. Da die Frist nicht verlängert wird, ist schnelles Handeln erforderlich. Bei versäumten Fristen kommt die Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand nach § 110 AO in Betracht, da Erben am Verstreichen der Frist regelmäßig kein Verschulden trifft.
Auswirkungen auf die Erbschaftsteuer
Steuererstattungen erhöhen den steuerpflichtigen Erwerb
Einkommensteuererstattungen für den Verstorbenen erhöhen den für die Erbschaftsteuer maßgebenden steuerpflichtigen Erwerb nach § 10 Abs. 1 Satz 3 ErbStG. Seit der Gesetzesänderung vom 29.12.2020 gilt dies auch für Erstattungen aus dem Todesjahr.
Steuernachzahlungen als Nachlassverbindlichkeiten
Umgekehrt können Steuernachzahlungen als Nachlassverbindlichkeiten nach § 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG geltend gemacht werden und die Erbschaftsteuer reduzieren (R E 10.8 ErbStR). Diese Regelung gilt unabhängig vom Todeszeitpunkt für alle Veranlagungszeiträume (BFH 4.4.12, II R 15/11).
Berechnungsbeispiel:
- Einkommensteuererstattung: 15.000 Euro → erhöht steuerpflichtigen Erwerb
- Einkommensteuernachzahlung: 8.000 Euro → reduziert steuerpflichtigen Erwerb
- Nettoeffekt: +7.000 Euro steuerpflichtiger Erwerb
Moderne Herausforderungen und digitale Transformation
Die zunehmende Digitalisierung der Finanzverwaltung bietet neue Möglichkeiten, stellt aber auch Herausforderungen dar. Die elektronische Kommunikation über ELSTER wird immer wichtiger, und Finanzplaner sollten ihre Mandanten bereits zu Lebzeiten für digitale Verfahren sensibilisieren.
Bei internationalen Sachverhalten ergeben sich zusätzliche Komplexitäten durch Doppelbesteuerungsabkommen und die Koordination verschiedener Steuersysteme, die spezialisierte Beratung erfordern.
Fazit: Professionelle Begleitung als Erfolgsfaktor
Die steuerlichen Pflichten im Erbfall erfordern eine systematische Herangehensweise und tiefgreifendes Fachwissen. Finanz- und Nachfolgeplaner können durch proaktives Management, die Identifizierung von Erstattungspotenzialen und die strategische Nutzung von Wahlrechten erhebliche Mehrwerte schaffen. Die strukturierte Begleitung der Erben ist ein essenzieller Bestandteil einer umfassenden Vermögensstrategie, die weit über das materielle Erbe hinausgeht.
Anhang: Praktische Checkliste für die steuerliche Nachfolgebetreuung
Aufgabenbereich | Konkrete Maßnahme | Frist/Zeitpunkt | Rechtsgrundlage |
---|---|---|---|
Sofortmaßnahmen | |||
Erbschein beantragen | Grundlage für alle weiteren Schritte | Nach Testamentseröffnung | § 2353 BGB |
Finanzamt informieren | Erbfall mitteilen, Ansprechpartner klären | Unverzüglich | § 45 AO |
Vollmachten prüfen | Bestehende Vollmachten sichten, ggf. widerrufen | Sofort | § 80 Abs. 4 AO |
Datensammlung | |||
ELSTER-Belegabruf | Lohn-, Renten- und Beitragsdaten abrufen | Bei Registrierung | – |
Bankverbindungen | Kontoauszüge für 12 Monate anfordern | Mit Erbschein | – |
Versicherungen | Policen und Auszahlungen prüfen | Zeitnah | – |
Steuerberater kontaktieren | Kontinuität der Beratung sicherstellen | Bei Beauftragung | – |
Finanzamt um Unterlagen bitten | Letzte Steuererklärung und Bescheide anfordern | Mit Erbschein | Bei Zusammenveranlagung Zustimmung erforderlich |
Steuererklärungen | |||
Abgabepflichten ermitteln | Ausstehende Erklärungen identifizieren | Sofort | § 45 AO |
Fristverlängerung beantragen | Bei knappen Fristen Verlängerung erwirken | Rechtzeitig | § 109 AO |
Todesjahreserklärung | Erklärung für das Sterbejahr erstellen | Bis 31.7. Folgejahr | § 149 AO |
Rückwirkende Erklärungen | Bis zu 4 Jahre prüfen | Antragsveranlagung | § 169 Abs. 2, § 170 Abs. 1 AO |
Optimierung | |||
Zusammenveranlagung | Gemeinsamen Antrag mit überlebendem Ehegatten stellen | Bei Ehepartnern | § 26 EStG |
Witwensplitting | Splittingverfahren für Folgejahr prüfen | Jahr nach Partnertod | § 32a Abs. 6 EStG |
Günstigerprüfung | Kapitalerträge über Anlage KAP optimieren | Bei Kapitalerträgen | § 32d Abs. 6 EStG |
Verfahrensrecht | |||
Einspruchsfristen | Laufende Verfahren und Fristen prüfen | Sofort | § 355 AO |
Wiedereinsetzung | Bei Fristversäumnis Wiedereinsetzung beantragen | 1 Monat nach Hindernis | § 110 AO |
Bescheidprüfung | Korrekte Adressierung kontrollieren | Bei neuen Bescheiden | § 122 AO |
Erbschaftsteuer | |||
Erstattungen erfassen | Als steuerpflichtigen Erwerb berücksichtigen | Bei ESt-Erstattung | § 10 Abs. 1 S. 3 ErbStG |
Nachzahlungen geltend machen | Als Nachlassverbindlichkeiten ansetzen | Bei ESt-Nachzahlung | § 10 Abs. 5 Nr. 1 ErbStG |
Gesamtoptimierung | Wechselwirkungen ESt/ErbSt berechnen | Bei größeren Erbschaften | – |
Sonderfälle | |||
Betriebsprüfung | Laufende Prüfungen koordinieren | Bei laufenden Prüfungen | § 193 AO |
Internationale Aspekte | DBA und ausländische Steuerpflichten klären | Bei Auslandsbezug | Jeweilige DBA |
Berichtigungspflicht | Bekannte Fehler anzeigen und korrigieren | Bei positiver Kenntnis | § 153 AO |
Wichtige Rechtsprechung:
- BFH 9.5.1978, VII R 96/75: Betriebsprüfungen nach Erbfall
- BFH 24.3.1970, I R 141/69: Unwirksamkeit falsch adressierter Bescheide
- BFH 8.10.1997, XI R 20/97: Veranlagungswahlrecht bei Erbengemeinschaften
- BFH 4.4.2012, II R 15/11: Nachlassverbindlichkeiten in der Erbschaftsteuer
Diese systematische Herangehensweise gewährleistet eine vollständige Abwicklung der steuerlichen Nachlasspflichten und die Ausschöpfung aller Optimierungsmöglichkeiten.