
Die Enterbung naher Angehöriger zugunsten anderer Personen führt häufig zu komplexen rechtlichen Auseinandersetzungen. Als Finanz- und Nachfolgeberater ist es essenziell, die rechtlichen Grundlagen zu verstehen, um Mandanten in solchen Situationen fundiert beraten zu können. Der folgende Fall des OLG München (Beschluss vom 12.08.2024 – 33 Wx 294/23 e) liefert wichtige Erkenntnisse für die Praxis.
Der Fall: Schwester statt Ehefrau und Tochter als Alleinerbin eingesetzt
In dem verhandelten Fall hatte ein schwer erkrankter Mann in einem handschriftlichen Testament seine Schwester zur Alleinerbin bestimmt und dabei sowohl seine Ehefrau als auch seine Tochter enterbt. Nach seinem Tod stellten die Enterbten die Gültigkeit des Testaments infrage. Im Erbscheinverfahren machten sie zwei zentrale Einwände geltend:
Beide Argumente wurden jedoch durch das Nachlassgericht und später durch das OLG München zurückgewiesen.
Die gerichtliche Prüfung: Form und Substanz auf dem Prüfstand
1. Die Echtheit des Testaments
Das Gericht musste zunächst klären, ob das Testament tatsächlich vom Erblasser selbst verfasst wurde. Wie die Entscheidung des OLG München zeigt, gibt es keine gesetzliche Vermutung, dass ein Schriftstück mit dem Namenszug des Erblassers tatsächlich von diesem stammt. Die Schwester als begünstigte Erbin trug hier die Beweislast.
Durch ein schriftliches graphologisches Gutachten konnte nachgewiesen werden, dass das Testament mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Erblasser selbst geschrieben wurde. Dies bestätigte die formelle Wirksamkeit nach § 2247 BGB (eigenhändiges Testament).
Für den Nachweis genügt laut Gericht “eine für das praktische Leben brauchbare Gewissheit, die vernünftige Zweifel ausschließt” – absolute Sicherheit ist nicht erforderlich. Das OLG stellte zudem fest, dass die Aussagen Dritter, denen gegenüber der Erblasser seinen Willen mitgeteilt hatte, die Echtheit des Testaments zusätzlich stützten.
2. Die Testierfähigkeit trotz schwerer Erkrankung
Die zweite kritische Frage betraf die Testierfähigkeit des Erblassers gemäß § 2229 Abs. 4 BGB. Der Erblasser litt an einem Glioblastom, einer schwerwiegenden Hirnerkrankung, die potenziell die geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen kann.
Bei der Beurteilung der Testierfähigkeit gilt grundsätzlich: Eine Person ist nicht testierfähig, wenn sie “wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihr abgegebenen Willenserklärung zu erfassen und nach dieser Einsicht zu handeln.”
Das OLG München holte ein psychiatrisches Sachverständigengutachten ein, das zu folgendem Ergebnis kam: Zwar lag beim Erblasser eine Störung der Geistestätigkeit vor, diese hatte jedoch nicht zum Ausschluss der freien Willensbildung geführt. Der Sachverständige bestätigte, dass trotz der schweren Erkrankung davon ausgegangen werden könne, dass der Erblasser noch testierfähig war.
Entscheidend für die Beurteilung ist allein der Zeitpunkt der Testamentserrichtung – nicht der allgemeine Gesundheitszustand im Verlauf der Erkrankung.
Konsequenzen für die Enterbten: Der Pflichtteilsanspruch
Obwohl Ehefrau und Tochter im Erbscheinverfahren unterlagen und die Schwester als Alleinerbin bestätigt wurde, stehen ihnen als nahe Angehörige gesetzliche Pflichtteilsansprüche zu.
Der Pflichtteilsanspruch beträgt dabei die Hälfte des gesetzlichen Erbteils und ist vom Erben – hier der Schwester – in Geld auszuzahlen. Wichtig zu wissen: Der Pflichtteilsanspruch entsteht unmittelbar mit dem Tod des Erblassers und ist sofort fällig (§ 2317 Abs. 1 BGB). Ein Aufschub der Fälligkeit kann nur in Ausnahmefällen nach § 2331a BGB erfolgen.
Die Pflichtteilsberechtigten müssen ihren Anspruch aktiv geltend machen. Die Verjährungsfrist beträgt dabei drei Jahre ab Kenntnis vom Erbfall und endet spätestens 30 Jahre nach dem Erbfall – unabhängig von der Kenntnis.
Fünf zentrale Erkenntnisse für die Beratungspraxis
1. Formale Anforderungen an das handschriftliche Testament sind entscheidend
Ein handschriftliches Testament muss vom ersten bis zum letzten Buchstaben eigenhändig geschrieben und unterschrieben sein (§ 2247 BGB). Im Streitfall wird die Echtheit durch Sachverständigengutachten geprüft.
Praxistipp: Beraten Sie Ihre Mandanten zu einer sicheren Aufbewahrung des Testaments und empfehlen Sie Zeugenunterschriften mit Datum, die zwar keine rechtliche Wirkung haben, aber die Ernsthaftigkeit und den Zeitpunkt dokumentieren können. Noch besser: Ein notarielles Testament nach § 2232 BGB, bei dem der Notar indirekt auch die Testierfähigkeit mitprüft.
2. Testierfähigkeit ist keine pauschale Frage der Diagnose
Eine psychische oder neurologische Erkrankung führt nicht automatisch zur Testierunfähigkeit. Entscheidend ist die konkrete Einsichts- und Handlungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung.
Praxistipp: Bei älteren oder kranken Mandanten kann ein ärztliches Attest über die Testierfähigkeit sinnvoll sein. Die Beweislast für eine behauptete Testierunfähigkeit liegt bei demjenigen, der sie geltend macht – in der Regel also bei den enterbten Angehörigen.
3. Pflichtteilsansprüche sind nicht vermeidbar, aber planbar
Der Fall zeigt deutlich: Die gesetzlichen Pflichtteilsansprüche stehen nahen Angehörigen selbst bei vollständiger Enterbung zu. Sie können nur durch einen notariellen Pflichtteilsverzichtsvertrag (§ 2346 BGB) umgangen werden.
Praxistipp: Entwickeln Sie für Ihre Mandanten frühzeitig Strategien zum Umgang mit Pflichtteilsansprüchen:
- Lebzeitige Vermögensübertragungen unter Beachtung der Zehnjahresfrist für den Pflichtteilsergänzungsanspruch
- Abschluss von Pflichtteilsverzichtsverträgen mit angemessener Abfindung
- Einsatz von Nießbrauchsmodellen und Vermögensübertragungen mit Rückfallklauseln
4. Das “Abschmelzungsmodell” bei Schenkungen verstehen und nutzen
Lebzeitige Schenkungen können unter den Pflichtteilsergänzungsanspruch fallen (§ 2325 BGB). Seit 2010 gilt das sogenannte “Abschmelzungsmodell”:
Zeitpunkt der Schenkung vor dem Erbfall | Berücksichtigung für den Pflichtteilsergänzungsanspruch |
---|---|
Im ersten Jahr | 100% |
Im zweiten Jahr | 90% |
Im dritten Jahr | 80% |
Im vierten Jahr | 70% |
Im fünften Jahr | 60% |
Im sechsten Jahr | 50% |
Im siebten Jahr | 40% |
Im achten Jahr | 30% |
Im neunten Jahr | 20% |
Im zehnten Jahr | 10% |
Ab dem elften Jahr | 0% |
Praxistipp: Nutzen Sie diese Staffelung für langfristige Vermögensplanungen. Die 10-Jahres-Frist beginnt mit der Ausführung der Schenkung, nicht mit der Vereinbarung. Bei Immobilien also mit der Eintragung im Grundbuch!
5. Dokumentation als Konfliktprävention
Der Fall des OLG München zeigt, wie wichtig eine umfassende Dokumentation des Testamentswillens ist. Nicht nur die formale Korrektheit, sondern auch die Dokumentation der Testierfähigkeit kann späteren Streit vermeiden.
Praxistipp: Raten Sie Mandanten, ungewöhnliche Verfügungen wie die Enterbung naher Angehöriger im Testament zu begründen – zwar ohne rechtliche Wirkung, aber mit dokumentarischem Wert. Ergänzende Videoaufnahmen oder Zeugenaussagen können zusätzlich helfen, den wahren Willen zu belegen.
Fazit: Vorausschauende Planung statt Konfliktmanagement
Der Fall des OLG München illustriert eindrücklich: Testamente, die vom gesetzlichen Erbrecht abweichen, bergen erhebliches Konfliktpotenzial. Für Finanz- und Nachfolgeberater liegt der Mehrwert darin, solche Konflikte vorauszusehen und durch kluge Gestaltung zu vermeiden.
Die Beratungsstrategie sollte dabei drei Ebenen umfassen:
- Formal korrekte Testamentsgestaltung – am besten notariell beurkundet
- Dokumentation der Testierfähigkeit – besonders bei Krankheit oder hohem Alter
- Pflichtteilsmanagement – durch lebzeitige Vermögensgestaltung oder Verzichtsverträge
Nur wer als Berater alle drei Ebenen im Blick hat, kann seine Mandanten vor kostspieligen und emotional belastenden Erbstreitigkeiten bewahren.
Checkliste für Finanz- und Nachfolgeberater
Prüfaspekt | Maßnahme | Rechtsgrundlage |
---|---|---|
Formale Wirksamkeit des Testaments | Eigenhändigkeit bei privatem Testament sicherstellen; alternativ notarielle Beurkundung empfehlen | § 2247 BGB (Eigenhändiges Testament) § 2232 BGB (Notarielles Testament) |
Testierfähigkeit absichern | Bei Zweifelsfällen ärztliches Attest oder notarielle Beurkundung empfehlen | § 2229 Abs. 4 BGB (Testierunfähigkeit) |
Pflichtteilsansprüche berücksichtigen | Pflichtteilshöhen simulieren und Auszahlungsstrategien entwickeln | § 2303 BGB (Pflichtteilsrecht) |
Pflichtteilsvermeidung planen | Notariellen Pflichtteilsverzicht, lebzeitige Schenkungen oder Nießbrauchsmodelle prüfen | § 2346 BGB (Verzicht auf Pflichtteil) § 2325 BGB (Pflichtteilsergänzung) |
Schenkungen richtig gestalten | 10-Jahres-Frist für Pflichtteilsergänzungsansprüche beachten | § 2325 Abs. 3 BGB (Abschmelzungsmodell) |
Dokumentation ungewöhnlicher Verfügungen | Begründung im Testament, Videobotschaft oder Zeugenaussagen | OLG München, Beschluss vom 12.08.2024 – 33 Wx 294/23 e |
Beweissicherung | Gutachterliche Stellungnahmen zur Testierfähigkeit bei gesundheitlichen Einschränkungen | § 2229 BGB i.V.m. § 286 ZPO (Freie Beweiswürdigung) |
Streitvermeidung | Vermögensübertragungen mit Auflagen, Familienrat zur Erläuterung des Testaments | § 2048 BGB (Ausgleichungspflicht) |
Belastete Immobilien | Liquiditätsplanung für Pflichtteilszahlungen, um Zwangsverkäufe zu vermeiden | § 2331a BGB (Stundung des Pflichtteils) |
Unternehmensnachfolge | Kombination aus gesellschaftsrechtlichen und erbrechtlichen Regelungen | § 1936 BGB i.V.m. gesellschaftsrechtlichen Regelungen |
Quellen:
- OLG München, Beschluss vom 12.08.2024 – 33 Wx 294/23 e
- §§ 2229, 2247, 2303, 2317, 2325, 2331a, 2346 BGB
- Rose & Partner: Anforderungen an ein gültiges Testament
- MTR Legal: Gutachten bestätigt Echtheit eines Testaments
- Wielinski: OLG München – Nachweis der Eigenhändigkeit eines Testaments